Zeitgenössische Literatur zum Verständnis des Nationalsozialismus

Im folgenden werden v.a. Titel genannt, die vor, während und kurz nach der NS-Herrschaft entstanden. Die Autoren fragen nach der Anziehungskraft des Nationalsozialismus für so viele Menschen und finden sie in emotionalen, unbewußten Motiven. Hervorzuheben sind die Analysen von Ernst Bloch, Wilhelm Reich, Max Horkheimer, Erich Fromm, Theodor Adorno, Thomas Mann, Erik Erikson, Henry Lowenfeld – fast alle als Juden und Linke selbst von den Nazis verfolgt und ins Exil gezwungen.
Da der Faschismus nicht nur mit Zwang und Terror funktionierte, sondern auch von einer Massenbewegung getragen wurde, schien den Autoren der Kritischen Theorie die Untersuchung der soziopsychischen Mechanismen notwendig, die eine Bevölkerungsmehrheit zur Begeisterung oder wenigstens Loyalität gegenüber dem Nationalsozialismus brachte. Man wollte verstehen, was das war, was in den Menschen den Botschaften der Nazis entgegenkam. Adorno (1973, S. 1-17) begründet die Notwendigkeit der Untersuchung subjektiver Mechanismen für die Erklärung des NS-Erfolges. Diese frühen Ansätze beziehen in hre psychologische Fragestellung nach dem Erfolg der NS-Bewegung und des Regimes sozioökonomische und historische Fakten mit ein.
Sie fragen, wie Tradition, ökonomische Krise, familiäre Situation die Entwicklung von bestimmten Wünschen und Ängsten nahelegen, die der NS bediente. Mit dieser Kombination von sozioökonomischer, historischer und psychologischer Betrachtung sind sie den bis heute beliebten biographischen Ansätzen (Patho-Biographien von Hitler, Goebbels, Höß etc.) mit ihrer Zentrierung auf Personen weit voraus und übertreffen auch die verhaltens-psychologischen Interpretationen zur Täterschaft z.B. von Browning oder Welzer an Differenziertheit. (Zur Kritik von Adorno et al. aus einer damals (1979) verbreiteten kapitalismuskritischen Position vgl. die Arbeiten von Vinnai und Wacker).
So unterschiedlich die damaligen Positionen waren: einig sind sich die Autoren in der Annahme, der Nationalsozialismus verspreche die Befriedigung widersprüchlicher Bedürfnisse, so z.B. Lowenfeld (1977, S. 569): Der NS verspricht Schutz in der Unterordnung unter die alten, immer schon anerkannten Autoritäten, und erlaubt gleichzeitig mit der Freigabe aller Gegner als Ziel von Haß und Rache eine „beispiellose Entfesselung aggressiver Triebelemente“.

Literaturtipps:

Adorno, Theodor W. et al.: The Authoritarian Personality. New York: Harper 1950
( auf deutsch – in einer sehr schlechten Übersetzung – der Teil von Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973)
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 (Original 1951)
Adorno, Theodor W. (1951): Die Freudsche Theorie und die Struktur faschistischer Propaganda. In: H. Dahmer (Hg.) 1980): Analytische Sozialpsychologie, Bd. I. Frankfurt/M. (Suhrkamp), S. 318-343 (Original 1951)
Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a.M. 1985 (Original 1935)
Erikson, Erik H.: Die Legende von Hitlers Kindheit. In: Helmut Dahmer (Hg.): Analytische Sozialpsychologie , Band I. Frankfurt/M. : Suhrkamp 1980,S. 257-281 (Original 1942/ 1950)
Federn, P.: Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft. In: Dahmer, H. (Hg.) : Analytische Sozialpsychologie, Band I. Frankfurt/M. Suhrkamp 1980, S. 65-87 (Original 1919)
Fenichel, Otto: Elemente einer psychoanalytischen Theorie des Antisemitismus. In: Simmel, Ernst (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt/M.: Fischer 1993, S. 35-57 (Original 1933, veröffentlicht in Simmel 1946)
Fromm, Erich: Sozialpsychologischer Teil. In: Horkheimer, M. et al.. (Hg.): Autorität und Familie. Paris: Alcan 1936, S. 77-135
Fromm, Erich: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. (hrsg. von Wolfgang Bonß) Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1980 (Erste Veröffentlichung der empirischen Untersuchungen der 1936 im Pariser Exil veröffenlichten ‚Autorität und Familie‘)
Fromm, Erich (1941/45): Die Furcht vor der Freiheit. Zürich (Steinberg) (Neuübersetzung: Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1983)
Horkheimer, Max: Autorität und Familie – Soziologischer Teil. Paris: Alcan 1936, S. 1-76
Horkheimer, Max (1939): Die Juden in Europa. In: ders.: Kritische Theorie der Gesellschaft, Band III. Raubdruck o.O., 1968, S. 1-34
Jung, Carl Gustav: Wotan. In ders.: Aufsätze zur Zeitgeschichte. Zürich: (Rascher), S. 1-24 (Original 1936)
Lowenfeld, Henry: Zur Psychologie des Faschismus. In: Psyche Jg. 30, Heft 6/1977, S. 561-579 (Original 1935)
Löwenthal, Leo: Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982 (Original 1948)
Mann, Th.: Ein Bruder. In: ders. (1977): Essays, Band 2 Politik. Frankfurt/M. (Fischer), S. 222-227 (Original 1939)
Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1986 (stark verändert gegenüber dem Original 1934)
Reich, Wilhelm: Der Widerspruch des Nationalsozialismus. In: Dahmer, H. (Hg.): Analytische Sozalpsychologie Bd. I, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 243-256 (Original 1937)
Salomon, F.: Rezension von Alix Strachey: The Unconscious of War. London: George Allen and UnwinLtd 1957. In: Psyche 3/1958 (12.Jg.), S. 916-919